Traditionelles Saatgut ist weit mehr als die Grundlage für eine erfolgreiche Ernte. Es trägt eine reiche Geschichte und kulturelle Vielfalt in sich und sichert die Ernährung von Milliarden von Menschen auf unserem Planeten. Bauernfamilien kämpfen unermüdlich, um die Saatgutvielfalt zu erhalten. Denn sie ist entscheidend für das Überleben kommender Generationen. Maricela Gironza, eine Bäuerin aus Kolumbien, über ihre Arbeit als Saatguthüterin.
Die Fakten
Die Ziele
Das Projekt unterstützt den Aufbau und die Aufrechterhaltung regionaler Netzwerke von Saatguthüterinnen und -hütern in zehn Departementen Kolumbiens. Diese Netzwerke sichern die Ernährungssouveränität der Bauernfamilien, indem sie die Produktion von qualitativ hochwertigem indigenem und kreolischem Saatgut in den gemeinschaftlichen Saatguthäusern steigern. Dadurch verfügen die Bauernfamilien über Strategien zur Anpassung an den Klimawandel und gehen Allianzen mit anderen Akteuren ein, um die bauernfreundliche öffentliche Politik zu beeinflussen. In diesen Netzwerken sind Jugendliche und Frauen massgeblich an allen Prozessen beteiligt.
Grüne Täler voller Felder, Wälder und Sträucher, soweit das Auge reicht. Das Land ist fruchtbar, auch wegen der konstant hohen Luftfeuchtigkeit. Über den Hügeln, am Ende langer, gewundener Feldwege, liegen verstreut die Fincas der Bauernfamilien. Das ist die Kulisse, vor der Maricela Gironza, eine Bäuerin aus Caldono in der Region Cauca in Kolumbien, jeden Morgen aufsteht. Obwohl ihre grauen Haare die Jahre verraten, ist die Motivation und Energie, die sie in ihre Farm steckt, beeindruckend. Diese Energie schöpft sie aus der bäuerlichen Gemeinschaft um sie herum und aus ihrer Arbeit mit Saatgut.
Kleine, kostbare Samen
Über Jahrtausende hinweg haben Bäuerinnen und Bauern auf der ganzen Welt eine unglaubliche Vielfalt an Saatgutsorten geschaffen. Im Gegensatz zum industriellen Saatgut spricht man von bäuerlichem oder traditionellem Saatgut. Diese kleinen Samen sind für Kleinbauern und -bäuerinnen äusserst wertvoll. Sie sind nährstoffreicher als industrielle Samen und erfordern weder teure Düngemittel noch Pestizide. Dank ihnen sind die Bauernfamilien autonom und unabhängig von der Industrie. Zudem ist jedes Saatgut an die Region, den Boden und das lokale Klima angepasst. Dadurch sind sie besonders widerstandsfähig. Ein großer Vorteil angesichts des Klimawandels.
Maricela Gironza weiss, wie wertvoll altes Saatgut ist: «Ich baue immer noch Saatgut an, das mein Grossvater vor fünfzig, sechzig Jahren gesät hat. Der Rest meines Saatguts hat sich durch Gespräche und Tauschen mit anderen Bauern und Bäuerinnen erweitert und verbessert. So haben wir auf unserem Hof Maissorten, die Trockenheit oder kalten Temperaturen standhalten, sowie Tomaten und Bohnen, die auch bei starkem Regen gute Ernten bringen. So müssen wir nicht hungern.»
Auf unserem Hof haben wir Maissorten, die Trockenheit oder kalten Temperaturen standhalten, sowie Tomaten und Bohnen, die auch bei starkem Regen gute Ernten bringen. So müssen wir nicht hungern.
Maricela Gironza, Saatguthüterin in Kolumbien
Immer mehr Monokulturen und Patente
Leider nimmt die Zahl der traditionellen Saatgutsorten in diesem Jahrhundert rapide ab. Laut der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) gingen in den letzten 100 Jahren 75 Prozent aller Sorten weltweit verloren. Der Hauptgrund liegt in den landwirtschaftlichen Monopolen der Agrarindustrie und dem Druck auf Bauernfamilien. «Die multinationalen Konzerne konzentrieren sich grösstenteils auf eine Handvoll Pflanzen: Weizen, Mais, Soja, Reis und einige Gemüsesorten. Ihr Ziel ist es, bestimmte Kulturen weltweit zu vermarkten, was zum Verschwinden lokaler Sorten führt», erklärt Simon Degelo, Saatgutexperte bei SWISSAID.
Der Verlust der Sortenvielfalt hat aber auch damit zu tun, dass die Politik und Regulierungen stark auf industrielles Saatgut wie das von Corteva, Syngenta und Bayer ausgerichtet ist. Dazu kommen Regelungen zu intellektuellem Eigentum, wie Patente und Sortenschutz, welche den Konzernen erlauben, marktbeherrschende Stellung weiter auszubauen. Dies geht auf Kosten kleiner Züchtungsunternehmen sowie der Bäuerinnen und Bauern. In vielen Ländern dürfen sie nur noch sehr eingeschränkt ihr eigenes Saatgut vermehren, tauschen und kaufen. Stattdessen sollen sie dieses jedes Jahr neu von den Konzernen kaufen.
In Kolumbien wird industrielles Saatgut im Rahmen eines nationalen Programms unterstützt und kostenlos an Bauern und Bäuerinnen verteilt. Maricela Gironza hat es getestet. Sie ist vom Ergebnis enttäuscht: «Wir haben mit verbessertem Kaffeesaatgut gearbeitet, das gegen Rost resistent sein sollte, aber zwei, drei Jahre später war der Schädling bereits da und wir mussten die Pflanzen behandeln.» Dasselbe geschah beim Mais. Die Bäuerin wandte sich daraufhin einer anderen Art von Landwirtschaft zu.
Saatgut für alle!
Saatgut in den Händen der Bäuerinnen und Bauern
Im Jahr 2012 hört Maricela Gironza zum ersten Mal von einem Projekt namens «Semillas de Identitad», das von SWISSAID unterstützt wird und sich für den Erhalt und die Wiederherstellung von einheimischem Saatgut einsetzt. Sofort überzeugt, stellte sie mit Unterstützung von SWISSAID ihren Hof auf Agrarökologie um und machte ihn zu einem Gemeinschaftshaus, einer sogenannten Saatgutbank. Diese Orte sind zentral: Die Bäuerinnen und Bauern erlangen die Kontrolle über die Produktion, Aufbewahrung und Verbreitung von traditionellem Saatgut. Und erhalten darüber hinaus das damit verbundene Wissen zurück.
So wird die kolumbianische Bäuerin zur Hüterin ihres eigenen Saatguts. Ihre Aufgabe ist es, qualitativ hochwertiges Saatgut zu produzieren, zu lagern und zu verkaufen oder zu tauschen. Diese sorgfältige Arbeit ermöglicht es den umliegenden Bauernfamilien, sich mit hochwertigem Saatgut zu versorgen. «Mit unseren Saatgutbanken ernähren wir viele Familien zu niedrigen Produktionskosten», freut sich die Bäuerin.
Saatgutbanken
Saatgutbanken, auf Spanisch «Casa de semillas», sind Orte, an denen traditionelles bäuerliches Saatgut aufbewahrt, getauscht und verkauft wird. Sie geben den Bauern und Bäuerinnen wieder die Kontrolle über die Produktion und Erhaltung von traditionellem Saatgut sowie über das damit verbundene Wissen. «Mit unseren Saatgutbanken ernähren wir viele Familien zu sehr niedrigen Produktionskosten», erklärt Maricela Gironza.
Die Identität einer ganzen Region
In Kolumbien und weltweit sind traditionelle Saatgutsorten von grosser Bedeutung. Sie sind nicht nur für eine gute Ernte wichtig, sondern erfüllen auch andere Funktionen. Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, erklärte 2021:
«Saatgut ist das Herzstück der Kultur und der Ernährungssysteme. Die Kontrolle über das Saatgut kommt der Kontrolle über das Leben gleich».
Der Austausch von Saatgut ermöglicht es, altes Wissen weiterzugeben. Zusätzlich haben die Einrichtung und Verwaltung von Saatgutbanken positive Auswirkungen auf das Leben in den Dörfern. «Der Unterschied zwischen dem indigenem, traditionellem Saatgut und den industrialisierten Kulturen liegt im Kollektiv. «Wir sind eine Vereinigung von Bäuerinnen und Bauern, die Häuser sind gemeinschaftlich organisiert und zusammen wollen wir die Biodiversität, die Ernährungssicherheit und das Wohlergehen der Bewohnerinnen und Bewohner und unser Territorium bewahren», betont Maricela Gironza.
Diese Erhaltungsmassnahmen schaffen neue Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten. Insbesondere dann, wenn sich Bäuerinnen und Bauern auf die Saatgutzüchtung spezialisieren, einen selektiven Anbau betreiben und neue Sorten anpflanzen. Die Saatgutproduktion bietet jungen Menschen zudem eine Alternative zur ländlichen Abwanderung.
Die Zukunft verteidigen
Im Jahr 2022 wurden insgesamt 83 Saatgutbanken im Rahmen des Projekts «Semillas de Identitad» errichtet. In Nicaragua läuft ein ähnliches Projekt. Insgesamt wurden in beiden Ländern 500 Saatgutsorten geschaffen und in Saatgutbanken gelagert. Rund 12‘000 Familien sind daran beteiligt. SWISSAID ist vom traditionellen bäuerlichen Saatgut und deren Bedeutung für die Unabhängigkeit der Bauernfamilien und im Kampf gegen den Klimawandel überzeugt. Sie lanciert deshalb ähnliche Projekte im Niger, Tschad und in Tansania.
Die Zukunft unserer Landwirtschaft und unserer Ernährung hängt von der Vielfalt des Saatguts ab. In ihm steckt unsere Geschichte, aber vor allem unsere Zukunft. Die Menschen, die von der Natur leben, haben das verstanden und kämpfen für den Erhalt der Artenvielfalt.
Genau wie Maricela Gironza, die jeden Tag für ihr Land, das Saatgut ihrer Vorfahren und die Zukunft unseres Planeten kämpft: «Das Saatgut überlebt, solange es in den Händen der Bauernfamilien und all der indigenen Gruppen ist, die es über Tausende von Jahren bewahrt haben. Es liegt an uns, den Indigenen, es zu verwenden, zu verteidigen und so unsere Gebiete zu schützen.» Und es liegt nun an uns, diesen Kampf zu unterstützen, von dem die ganze Welt profitieren wird.