«Wenn das Telefon klingelt, könnte wieder jemand gestorben sein»
«Das Ausmass der Pandemie ist so gigantisch, dass wir jede helfende Hand gebrauchen können.»: Sneha Giridhari arbeitet als Senior Programme Officer für das SWISSAID Koordinationsbüro in Pune, Indien. Sie selbst hat gerade eine Corona-Infektion überstanden, in ihrer Familie kommt sie fast täglich mit dem Tod in Berührung. Im per Zoom geführten Interview mit «blue News» erklärt die engagierte Sozialarbeiterin, wie schlimm die Lage wirklich ist.
«Wenn das Telefon klingelt, könnte wieder jemand gestorben sein» (bluewin.ch)
«Das Gesundheitssystem ist im Grunde schon kollabiert»
In Indien wütet die Pandemie, das Gesundheitssystem scheint hoffnungslos überlastet. Wie dramatisch die Situation ist, erfährt unsere Mitarbeiterin Petra Engelhard täglich von ihren Mitarbeitenden vor Ort. Sie ist bei SWISSAID für die Länderprogramme in Indien und Ecuador zuständig.
«Das Gesundheitssystem ist im Grunde schon kollabiert» (bluewin.ch)
«Wir hoffen und beten, dass sich die Situation nicht weiter verschlechtert», sagte Kavita Ghandi im März 2020, als wir sie zur Situation in Indien befragt hatten. Als hätte sie schon damals geahnt, dass dies ein frommer Wunsch bleiben sollte: Zwar entspannte sich die Corona-Situation für kurze Zeit im Herbst und Winter 2020. Aktuell ist die Lage katastrophaler denn je.
Überlastete Spitäler ohne ausreichende Sauerstoff-Reserven, fehlendes Personal, Mangel an Schutzmaterial und Beatmungsgeräten, überfüllte Krematorien, Menschen die verzweifeln. Die Situation in Indien ist dramatisch. Chaos, wohin man blickt. Mehr als 200’000 Todesfälle sind bereits zu beklagen, Dunkelziffer unbekannt. Innerhalb der letzten Woche gab es täglich mehr als 300’000 bestätigte Corona-Neuinfektionen: Das hat das indische Gesundheitsministerium am 28. April bestätigt (Quelle: OWID).
«Was ich mit meinen eigenen Augen sehe, beunruhigt mich sehr. Die Corona-Zahlen steigen nicht nur in den Städten, sondern auch in ländlichen Gebieten an. Gegen diese Katastrophe ist unser Gesundheitssystem nicht gewappnet.» Kavita Ghandi, Leiterin Koordinationsbüro Indien
SWISSAID: In den Medien sehen wir erschreckende Bilder aus Indien. Wie schätzen Sie die allgemeine Lage ein und wie geht es den Mitarbeitenden der Koordinationsbüros und den Partnern?
Kavita Ghandi: Die Situation in Indien ist schlecht. Die Corona-Zahlen steigen nicht nur in den Städten, sondern auch in ländlichen Gebieten an. Unsere Gesundheitsinfrastruktur ist gegen das Ausmass dieser Katastrophe nicht gewappnet. Wir sind sehr beunruhigt über die Situation, da alle von uns Freunde und Familienangehörige haben, die betroffen sind. Das SWISSAID-Koordinationsbüro ist geschlossen die Mitarbeitenden arbeiten im Homeoffice. In den Partnerorganisationen ist ein Teil des Personals an Corona erkrankt. Weder unsere Mitarbeitenden noch jene der Partnerorganisationen sind aufgrund der Ansteckungsgefahr in den Dörfern unterwegs. Trotz diesen erschwerten Bedingungen arbeiten wir mit Hochdruck daran, unsere Arbeit zugunsten der Ärmsten fortzuführen.
SWISSAID: Können die regulären SWISSAID-Projekte weitergeführt werden?
Kavita Ghandi: Unsere Projektaktivitäten haben wir in vielen Teilen des Landes, darunter auch im Bundesstaat Maharashtra, in dem SWISSAID viele Projekte betreibt, an die dramatische Situation angepasst und wo nötig reduziert. Wir wollen weder unsere Mitarbeitenden noch das Personal unserer Partner gefährden. Dort, wo die Internetverbindung in den Dörfern gut ist, führen wir einige Online-Trainings zur Gleichstellung durch. Auch andere Projekte, insbesondere in der Aufklärung gegen häusliche Gewalt, können weitergeführt werden. Und im Februar und März haben wir eine Kampagne gegen Kinderheirat lanciert. Unsere Partnerorganisationen hatten Hinweise erhalten, dass Kinderheiraten durchgeführt werden sollen. Unserer Partner intervenieren bei diesen Familien und versuchen zu verhindern, dass diese Kinderehen geschlossen werden.
SWISSAID: Von Mai bis September 2020 konnten wir rund 55’000 Begünstigte mit Corona-Nothilfeprojekten unterstützen. Wie helfen wir jetzt?
Kavita Ghandi: In unseren Projekt-Regionen fliessen und dank der Arbeit unserer Partner staatliche Hilfen, so z.B. die Witwenrente oder die Verteilung von Grundnahrungsmittel. Wir unterstützen weiter unsere Partnerorganisation CYDA, die sich dafür einsetzt, das Bewusstsein für Impfungen zu fördern. Vor allem in den einkommensschwachen Siedlungen impfen sich nur wenige Menschen. Wir helfen bei der Rekrutierung von neuen Mitarbeitenden, welche die staatlichen Impfzentren bei der Organisation, der Verwaltung der Daten und bei der Beratung der Patienten unterstützen. Und wir klären ab, wie wir weitere konkrete Hilfe leisten können, wie etwa Beatmungsgeräte zu beschaffen.
«Jetzt ist vor allem medizinische Nothilfe gefragt.»
Das wichtigste ist jetzt, in die Gesundheitsinfrastruktur zu investieren: Das Land braucht neue Krankenhäuser, Sauerstoff, Medikamente und muss mehr Gesundheitspersonal ausbilden.
SWISSAID unterstütz die Partnerorganisation CYDA, die sich dafür einsetzt, das Bewusstsein für Impfungen zu fördern. Vor allem in den einkommensschwachen Siedlungen lassen sich nur wenige Menschen impfen.
SWISSAID: Das Coronavirus verstärkt die Hungerkrise. Wie sieht die Lage in Indien aus?
Kavita Ghandi: Im Moment kriseln vor allem das Gesundheitssystem und die Infrastruktur. Genauso problematisch sind aber die Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit. Wenn sich die Situation weiter zuspitzt, droht Hunger. Denn Ausgangssperren und Quarantänemassnahmen verzögern die Ernte und machen die Versorgung mit Lebensmitteln immer schwieriger. Gerade für Menschen in entlegenen Gebieten wird das Essen knapp. Umso wichtiger und lebensnotwendiger wird die lokale Landwirtschaft. Wir setzen uns deshalb täglich dafür ein, die Bäuerinnen und Bauern bei der Umstellung auf agroökologischen Anbau zu unterstützen, damit sie auch in Krisenzeiten genug zu essen für sich und die Familie haben.
Jetzt braucht es nicht nur medizinische Nothilfe: Wenn sich die Situation weiter zuspitzt wird das Essen knapp. SWISSAID setzt alles daran, dass die ärmsten Bäuerinnen und Bauern auch in dieser Zeit genug zu Essen für sich und die Familie haben.